Analoge Fotografie als Erinnerungspraxis

Anstoß meines Fotoprojekts war die Diskussionsfrage, ob Fotografien unser Erinnerungsvermögen an den Moment der Fotoaufnahme verändern können. Persönlich würde ich diese Frage sofort mit Ja beantworten, in Gedanken an Familienfotos oder Momente, die zu “schönen” Erinnerungen werden können, weil davon “schöne” Fotos existieren.

Doch wie verändert sich die Erinnerung, wenn eben nicht die erinnerungswerten Augenblicke des Lebens fotografiert werden, sondern Dinge des Alltags, die vielleicht banal oder sogar hässlich erscheinen? Von dieser Frage ausgehend belichtete ich innerhalb von zwei Wochen einen analogen Schwarzweißfilm, indem ich “unästhetische” Dinge aus meinem Alltag aufnahm. Hierbei entstanden 37 Bilder von Klapprädern, Zugfahrten, gepackten Mahlzeiten, Wäscheständern, leeren Briefkästen und strömendem Regen.

Meine Beobachtungen führen zu einer traditionsreichen Vorstellung von Fotografie: ihre Fähigkeit, Unsichtbares sichtbar zu machen. Im Projekt geschah dies durch die Sichtbarmachung und Wertschätzung kleinster Details. Dinge, die einem im Moment vielleicht nicht besonders wichtig erscheinen, können durch ein Foto zu einer bedeutsamen Erinnerung werden. Gründe, warum sich in dieser Erinnerungspraxis gerade so oft der analogen Fotografie bedient wird, können ihre spezifische Ästhetik, die sich auch durch ihre ärmere Bildqualität hervorhebt, und ihre retrospektive Zeitlichkeit sein. Je nachdem, wie lange Fotograf*innen für die Belichtung eines Films und Fotolabore für dessen Entwicklung brauchen, vergehen Wochen zwischen der Aufnahme eines Moments und seiner Betrachtung durch das Foto. Beim Betrachten der Fotografie liegt die Erinnerung bereits zurück, das Foto beleuchtet sie jedoch, besonders durch eine als “schön” wahrgenommene Ästhetik, von Neuem. Die Analogfotografie wird so zu einer Technik des Innehaltens, des Abwartens, des Überraschen-Lassens.

Literaturbasis: 

Daston, Lorraine/Peter Galison: Photographie als Wissenschaft und als Kunst (2007), in: Bernd Stiegler (Hrsg.): Texte zur Theorie der Fotografie, Stuttgart 2010.

Jellonek, Dennis: Fertigbilder: Polaroid Sofortbildfotografie als historisches und ästhetisches Phänomen, München 2020.

Stiegler, Bernd: Bilder der Photographie: Ein Album photographischer Metaphern, Frankfurt a.M. 2006.

Riemann_Fotoserie

Fotoserie 23.04. bis 07.05.2025

© Susanne Eva Riemann

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