In der Medienwissenschaft wird im Zusammenhang mit Fotografie oft die Idee der Konstruktion von "Wirklichkeit" thematisiert. Das Einfrieren oder Festhalten von "Realität." Was zählt als Wirklichkeit? Das ist eine riesige Frage, bei der man nicht weiss, wo man beginnen soll, um sie zu beantworten. Deshalb habe ich das für mein Projekt am Beispiel des inszenierten Portraits runtergebrochen.
In welchem Masse wird die fotografierte Person selbst zur „Schauspieler:in“ in ihrem eigenen Porträt?
In der Fotografie gibt es die unbestimmbare Grenze, an der Authentizität zu verschwimmen beginnt. Vor der Linse einer analogen Kleinbildkamera wird jede vermeintlich spontane Geste zum sorgfältig gewählten Ausdruck. Zugleich wächst daraus eine paradoxe Vertrauensgrundlage: Wir nehmen das Bild als unbestechliche Spur der Wirklichkeit, obwohl es genau das ist, was der/die Fotografin:in und die Person vor der Kamera konstruiert.
Die vier imaginären Grössen nach Ivo Kranzfelder - die Person, für die ich mich halte; die, für die ich gehalten werden möchte; die, für die mich der/die Fotograf:in hält; und jene, deren Bild sie*er zur Demonstration ihres/seines Könnens einsetzt - verschränken sich hier, zur doppelten Rolle von Subjekt und Schauspieler:in.
Jede Pose, jeder Blick wird bewusst oder unbewusst eingesetzt, um eine Identität zu inszenieren. Die Porträtierte wird so zur Regieassistentin in ihrem eigenen Foto: Sie spielt mit Haltung und Blickführung, um eine Version ihrer Selbst zu präsentieren. Dies ist in diesem Moment die Wirklichkeit. Sie inszeniert ihre eigene Persönlichkeit. Sie spielt sich und wenn man dann nach dem Entwicklungsprozess das Bild anschaut, sieht man nur sie.
Der Prozess der Inszenierung gerät schnell in Vergessenheit. Gerade die Nutzung einer analogen Kleinbildkamera suggeriert Unmittelbarkeit und dies ergibt den Anschein von Spontanität. Der Moment des Auslösens bleibt selten wiederholbar, jede Aufnahme ist einmalig und damit kostbar. Dieses Verfahren bestärkt unser Vertrauen in die Fotografie: Wir empfinden die so fixierte Pose als “echt und spontan”, obwohl sie geplant sein kann. Am Ende werden nicht nur die Grenzen zwischen Authentischem und Konstruiertem schwer greifbar. Es wird offenbart, wie sehr wir selbst zu Akteur:innen werden: im Bewusstsein, dass das Bild - so unsichtbar die Regie auch bleibt - nie neutral ist, sondern immer ein Angebot zur Identitäts- und Wirklichkeitskonstruktion.
Mein Ziel war es meine Mitbewohnerin zu porträtieren. Sie sollte sich anziehen wie sich selbst. Sie spielt seit Jahren Fussball und wir waren auf dem Dach unserer damaligen Wohnung. Wenn man sie kennt, schreien die Bilder nach ihr. Also wirkt es authentisch und doch ist vieles inszeniert. Als Mittel der Inszenierung wollten wir etwa, dass sie Boots trägt, da dies im Sport unüblich ist, besonders beim männlich dominierten Fussball. Ich hatte bestimmte Posen in meinem Kopf und diese hat sie ausgeführt. Ich spielte mit dem Ziel der offensichtlichen Inszenierung und gleichzeitiger Spontanität. Gewisse Posen waren nicht eine einmalige Situation, sondern wurden zuvor ausprobiert oder ich schoss mehrere Fotos. Dies würde man nach Gewohnheit nicht erwarten, wenn man analoge Bilder einer Point-and-Shoot vor sich hat. Es sind meist Schnappschüsse. Und andere Bilder sind ohne grosses Überlegen entstanden.
Ich wollte die Grenzen zwischen aktiver visueller Darstellung und vermeintlicher Wirklichkeit unklar werden lassen. Jedes Bild befindet sich stärker auf der einen oder anderen Seite des Spektrums zwischen Darstellung und Spontanität. Alle zusammen spiegeln die Intention wider und trotzdem könnte man keine Grenzen zwischen der Inszenierung meinerseits, die von der Porträtierten selbst und des spontanen Zufalls setzen. Sogar ich als beteiligte Person kann nicht beurteilen, was davon aktive Inszenierung oder spontane Handlung seitens meiner Mitbewohnerin war und genau deshalb kann man nie ganz festhalten was Wirklichkeit ist.
Die porträtierte Person ist immer auch ein:e Schauspieler:in.
Literaturbasis:
Kranzfelder, Ivo (1987): Photographie automatique. Anwendungsweisen der Automatenfotografie. In: Fotogeschichte. Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie (Jahrgang 7, Heft 26), Frankfurt a. M., S. 45–49.
© Salome Wohlwender
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